Freitag, Mai 02, 2008

Ich bin der Trottel der Nation

Ich bin 72, Rentner, verheiratet 3 Kinder, 2 im Studium, ein Kind behindert. Ich war Alleinverdiener.

Und ich bin neuerdings ein moralisch äußerst suspekter Bürger, denn ich gehöre nicht zum Prekariat.

Als ich mein Berufsleben mit 29 nach abgeschlossenem Studium der Betriebswirtschaft begann, hatte ich keinerlei Vermögen und weder meine Frau noch ich haben in der Zwischenzeit Vermögen geerbt.

Ich habe immer als Angestellter gearbeitet, die letzten 30 Jahre erfolgreich als Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens. Das war nahezu bankrott, als ich die Geschäftsführung übernahm und ernährte 120 Beschäftigte, als ich ging.


Ich war nahezu durchgehend mit den jeweiligen Höchstbeiträgen Nettozahler in die Arbeitslosenversicherung, in die Rentenversicherung und selbst jetzt entrichte ich als Rentner noch immer wie zur aktiven Zeit den Familienhöchstbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Gleichzeitig habe ich für den Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, mein ganzes Berufsleben lang vorgesorgt und kontinuierlich Rücklagen so gebildet und angelegt, dass ich nun über ein kleines Vermögen verfüge. Die Folge meines Verhaltens ist, dass die ganze Familie auch jetzt, wo ich Rentner bin, ohne direkte staatliche Hilfe leben kann - der Lebensunterhalt für meinen behinderten Sohn und die Ausbildungskosten für meine Töchter eingeschlossen.

Ich habe
kein Vermögen im Ausland, ich habe keine Steuern hinterzogen und habe außer dem Kindergeld noch nie eine direkte staatliche Leistung bezogen.

Ich habe bisher geglaubt, wegen dieser Auffassung ein Idealbürger für unseren Staat zu sein, denn mein Verhalten ist, so dachte ich, gewünscht.

Dem ist auch durchaus so. Allerdings aus ganz anderen Gründen, als ich bisher naiv gedacht habe.

So sind die Auswirkungen meines Verhaltens tatsächlich durchaus erwünscht, aber nicht, wie ich zu erkennen beginne, weil ich erfolgreich versucht habe, mein Leben und das der Meinen aus eigener Kraft und ohne staatliche Unterstützung zu bewältigen, sondern weil ich mich damit ahnungslos zu den verlässlichen Dauer- und Hochleistungs-Melk-Kühen des Gemeinwesens in den Stall gestellt habe.

Denn wie alle meiner Spezies bin auch ich ein Auserwählter - auserwählt, um ungefragt tatkräftig für die soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

Aber niemand anerkennt unsere bisher und laufend weiterhin erbrachten Leistungen für das Gemeinwesen, indem beispielsweise die Haltung von uns Melk-Kühen in den Medien als vorbildhaft hervorgehoben würde - im Gegenteil.

Denn dadurch, dass wir vorgesorgt haben, gehören wir neuerdings, wie ich allen Medien entnehmen kann, zu einer moralisch eher suspekten Gruppe der "Reichen", der "Besserverdiener".


Wir bilden unglücklicherweise eine wählerstimmen-statistisch zu vernachlässigende Gruppe und unser Gefühl, dass soziale Gerechtigkeit auch eine andere Seite hat, die Seite derer, die zunehmend in die Sozialkassen einzahlen müssen, ist daher keine Fußnote wert.

Bei mir erkennt man meine Zugehörigkeit zur „gierigen Elite“ zum Beispiel schon daran, dass ich mir die 1.000 € Zuzahlung zu meiner Hörhilfe leisten kann. 
So etwas ist – wenn man den Unterton der veröffentlichten Diskussion berücksichtigt – bereits anrüchig. Der arme Harz IV-Empfänger kann sich das nicht leisten - das ist sozial ungerecht.

Ich beobachte mit zunehmender Wut, dass Polit- und Verbandsfunktionäre zwecks Stimmenfang zum Machterhalt oder Machtgewinnung
Volksverhetzung betreiben. Sie suggerieren einer zunehmenden Anzahl von Bürgern - inzwischen sind das aufgerundet schon gegen 25% der Bevölkerung - , dass sie mit ihrem Leben unzufrieden sein sollten, auch wenn sie das bisher noch gar nicht gemerkt haben.

Da gibt es interessante Gruppen, aus deren Potential sich zur Wahl stehende Funktionäre der politischen Klasse Wähler-Stimmen ausrechnen. Täglich wird eine neue Gruppe entdeckt und als arm und daher versorgungsbedürftig auf den Markt geworfen:


Zum warm-up wird wahlweise mit den 346 EUR für den Harz IV-Empfänger (Wohngeld, Kindergeld, kostenlose Krankenversorgung werden unterschlagen), der Alleinerziehenden Mutter, der Krankenschwester oder den geringen Einkommen ungelernter Arbeitnehmer das soziale Gewissen angesprochen.

Unverdächtige Gruppen, die nur der Herzlose als ausreichend versorgt bezeichnen kann.

Ein sympathisches und glaubhaftes Musterexemplar wird dann plakativ vorgezeigt und dient der Verallgemeinerung. Das nennt man Konkretisieren, ein Fachbegriff aus der Manipulationsindustrie, um wirksamer begreiflich zu machen, worum es geht. (Betroffenheitsspezialistin ist Anne Will am Sonntag Abend - gerne auch Maybrit Illner oder Sandra Maischberger - also die einschaltquotenabhängigen unangreifbaren Meinungsmacher im Dienst von ARD und ZDF. Sie surfen auf der Woge der Zeitgeiströmungen, die sie selbst auftürmen.)

Dann werden die Rentner, (auch die, die gerade braungebrannt aus dem Winterquartier aus Mallorca zurück kommen), und damit ein gewaltiges Wählerpotential zitiert und bemitleidet, wobei untergeht, dass nur 2% unter der Armutsgrenze leben.

Und neuerdings die Gruppe der Facharbeiter, Büro-Angestellten oder Handwerker, heute Mittelstand genannt und selbstverständlich mit Anspruch auf 6 Wochen Urlaub in Spanien, Türkei oder den USA und eigenem Haus, das dereinst einen Verkehrswert von 300.000 € haben wird, wird gleich auch gezielt verängstigt.


Ich, Dein Gewerkschafts-, Polit-, Sozialverbands-Funktionär weiß mehr: Der Aufschwung ist an Dir vorbei gegangen, der Anstieg  der Arbeitslosenzahl um 1,2 Mio geht zu Lasten Deines Einkommens. Harz IV klopft bereits an Deine Tür. Wenn Du das bisher nicht fürchtest, wird es Zeit.

(Mir ist aufgefallen, dass Politiker, Funktionäre oder Beamte weder bei den armutsbedrohten Gruppen noch bei den Besserverdienern auftauchen - nur als Besserwisser? Das sind die Systemgewinner.)


Die so in den Zustand der Unzufriedenheit versetzten Betroffenen sind natürlich nicht schuld an der bedrohlichen Lage - sie sind Opfer. Schuld an der ungerechten Verteilung von Vermögen und Einkommen sind die Erfolgreichen.

Man zeigt auf die Heuschrecken, zitiert die Zumwinkels und die Ackermänner und suggeriert: Wer erfolgreich ist, ist gierig, ist unmoralisch. Besonders Banker.

Wer aus eigener Kraft sein Leben meistert ist schon mal verdächtig, sich zu Lasten der Armen bereichert zu haben.

Damit ist gerechtfertigt, all denen zu nehmen, die so viel haben, dass sie ohne staatliche Stütze leben können und unter den Ehrlichen und eben deshalb Armen zu verteilen.

Das ist sozial gerecht und christlich obendrein und daher moralisch.

Der Herstellung der sozialen Gerechtigkeit wird tatkräftig, unauffällig und kontinuierlich genüge getan. Ich nehme meine konkrete Erfahrung als Beispiel:


Ich habe in den vergangenen 30 Jahren den Höchstbeitrag in die gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt. Meine Frau hat zu Gunsten der Familie - nicht zuletzt wegen unser behinderten Sohnes - auf die Ausübung ihres Berufes und damit auf ihr wirtschaftliche Selbstständigkeit verzichtet. (Sie ist Lehrerin, war verbeamtet, hatte ihren Beruf gerne ausgeführt und familienbedingt eher unfreiwillig aufgeben müssen.)

Fairer Weise habe ich nach meiner Verrentung Teile unseres selbst verdienten und angesparten Vermögens formal meiner Frau überschrieben. Folglich fällt nun ein Teil unseres Einkommens auf sie und ich habe entsprechend weniger.

Und prompt: Obwohl das Familieneinkommen unverändert gleich hoch ist, aber jetzt auf zwei Familienmitglieder verteilt, hat die Familie jetzt formal zwei Verdiener. Das bedeutet Wegfall der Familien-Kranken-Versicherungstarifes.

An Stelle des Familientarifes existieren nun 5 einzeln zu versichernde Krankenkassenmitglieder.

Die GKV erwartet nun statt der 616 € pro Monat – Pflegeversicherung und gesonderter Beitrag für die studierenden Töchter eingeschlossen – rund 1.382 €. (Übrigens: Meine staatliche Brutto-Rente nach fast berufslebenlanger Maximaleinzahlung beträgt derzeit 1.682 €. Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich zwangsweise in die Rentenversicherung eingezahlt habe: Damit ich als Rentner genug habe, um die Gesetzliche Kranken-Versicherungs-Prämien auch wirklich bezahlen zu können.)

Wie glücklich doch der Harz IV-Empfänger. Seine Armut sichert seine moralische Integrität - neben mir, dem moralisch zweifelhafte Besserverdiener. Im Krankenbett bei gleicher medizinischer Versorgung, muss er doch weder für sich, noch für seine Frau und seine 3 Kinder Krankenversicherung bezahlen. Das macht unsereins und weiß doch: Computer mit Internet, Flachbildschirm, DVD-Player, Playstation und Handy sind unpfändbare Mindestausstattung - schon von wegen der sozialen Gerechtigkeit und unserer Armutsdefinition.... (Nachtrag 2011: Und nun soll diesen armen Menschen noch der Zuschuss für Alkohol und Zigaretten genommen werden! Wirklich sozial ungerecht!)

Irgendwann werde auch ich so gemolken werden, dass ich Sozialleistungen beantragen muss, weil ich den Lebensunterhalt für meinen Sohn (steuerlich absetzbare Aufwendungen im Jahr 1.800 EUR) oder die Ausbildung meiner Töchter nicht mehr aufbringen kann. Vielleicht sollte ich schon mal
Die LINKE wählen, denn die sorgt dafür, dass ich in Zukunft recht nett leben kann, ohne was dazu tun zu müssen. Auch meine Familie ernährt dann der Staat. Darauf haben dann endlich auch wir einen Rechtsanspruch.

Ich habe nicht gemerkt, was anderen Zeitgenossen, die zu Vermögen gekommen sind, offensichtlich nicht entgangen ist: Es hat eine Entwicklung unseres Gemeinwesens zu einem sozialistischen Gebilde stattgefunden und der, der sein Leben wirtschaftlich erfolgreich geführt hat, wird zum moralischen Verlierer.

Andere haben rechtzeitig erkannt, dass sie infolge der gesellschaftliche Entwicklung über kurz oder lang ohnehin als moralisch minderwertig eingestuft unter Applaus um die Früchte ihres Tuns gebracht werden würden und entzogen sich in selbsterhaltender Weise: Sie schafften ihr Vermögen ins Ausland und/oder flüchteten selbst frühzeitig hinterher.

Sie heißen
Michael Schuhmacher, Boris Becker oder Franz Beckenbauer und zählen zu den Promis, mit denen sich Politiker gerne schmücken oder Alois Müller von Müller-Milch und bilden damit die Spitze eines gewaltigen Eisbergs derer, die rechtzeitig erkannt haben, was in unserer Gesellschaft passiert.

Ich habe nichts dergleichen getan, zahle zunehmend mehr in den Verteilertopf, erhalte abnehmende Leistung und werde den moralisch zweifelhaften Besserverdienern zugerechnet, die, weil nicht geflüchtet, abgegriffen werden können.

Es lebe die soziale Gerechtigkeit und mir wird klar:

Ich bin der Trottel der Nation.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Toller Kommentar - dem stimme ich voll zu! Auch ich werde "gemolken" wo es nur geht, bin seit 2001 Witwe, aber das kümmert keinen bei der sogenannten "Solidarität", zahle tapfer weiter,gehöre also auch zum "Trottel der Nation"! An die Machenschaften der Politiker mit dem wahllosen Griff in unsere Steuergelder für einen bequemen Eigenbedarf will ich gar nicht denken!
LG Margot - fly6