Sonntag, September 02, 2018

Protokoll

Warum es zwischen Deutschen und Flüchtlingen so viele Missverständnisse gibt – und wie sie sich aufklären lassen
von Zohre Esmaeli
Spiegel 36/2018

Wenn wir die freie, to­le­ran­te Ge­sell­schaft blei­ben wol­len, die wir heu­te sind, müs­sen wir die Her­aus­for­de­rung ernst neh­men, die durch den Zu­zug von mehr als ei­ner Mil­li­on Asyl­be­wer­bern ent­stan­den ist. Wir müs­sen han­deln. Aber die Deut­schen ha­ben Angst, Ge­set­ze an die neue Si­tua­ti­on an­zu­pas­sen. Das hat dazu ge­führt, dass die li­be­ra­le Mit­te un­tä­tig er­starr­te und ein an­de­rer Teil der Bür­ger sich ra­di­ka­li­sier­te, weil die­se Men­schen glau­ben, dass ihre Sor­gen nicht ge­hört wer­den.
Ich ken­ne bei­de Wel­ten: die des Flücht­lings­kin­des, das Schreck­li­ches er­lebt hat, ich war im Asyl­be­wer­ber­heim, wur­de aus­ge­sto­ßen, ver­lacht, in der Schu­le ge­hän­selt. Ich ken­ne aber auch die Welt der Deut­schen. Ich bin heu­te eine von ih­nen, eine Ge­schäfts­frau, die sich et­was auf­ge­baut hat und die die­ses Land liebt, das mir die­se Chan­ce ge­ge­ben hat.
Ich kam zu Fuß nach Deutsch­land, aus Af­gha­nis­tan. Sechs Mo­na­te lang wa­ren mei­ne Fa­mi­lie und ich un­ter­wegs. Das ist ge­nau 20 Jah­re her. Die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land war eine völ­lig frem­de Welt für mich. Der Staat kann Hei­me zur Ver­fü­gung stel­len, Schu­len, Be­hör­den für die Men­schen, die kom­men. Aber Be­am­te und So­zi­al­päd­ago­gen ge­hen auch nach acht Ar­beits­stun­den in den Fei­er­abend. Und wo­her soll­ten Po­li­ti­ker und Be­am­te wis­sen, wel­che Pro­ble­me un­ter­schied­li­che Grup­pen der Flücht­lin­ge ha­ben
Ich plä­die­re für ei­nen ein­heit­li­chen, ver­pflich­ten­den In­te­gra­ti­ons­kurs für Mi­gran­ten und Flücht­lin­ge, der so lan­ge dau­ert, bis der Do­zent sagt, die Teil­neh­mer ha­ben die In­hal­te wirk­lich ver­stan­den. Die Kurs­lei­ter soll­ten selbst Ein­wan­de­rer sein, mehr­spra­chig und mit bei­den Kul­tu­ren ver­traut. Das fehlt heu­te. Wir, die vor lan­ger Zeit Ein­ge­wan­der­ten, ken­nen die Schwie­rig­kei­ten der Flücht­lin­ge, wir ken­nen aber auch die Tricks von man­chen un­ter ih­nen. Wir wis­sen von den Vor­be­hal­ten der Deut­schen, von de­nen vie­le hilfs­be­reit sind, aber auch schnell frus­triert, wenn sich Flücht­lin­ge an­ders ver­hal­ten als er­wünscht: un­dank­bar, un­pünkt­lich, un­nah­bar.
Ori­en­ta­li­sche Fa­mi­li­en schwan­ken oft zwi­schen in­ni­ger Um­ar­mung und Streit. Das geht ein­her mit Er­war­tun­gen, For­de­run­gen, Zwang. Hier in Deutsch­land darf nie­mand über den an­de­ren be­stim­men, kei­ner ist dem an­de­ren selbst­ver­ständ­lich ver­pflich­tet. Man kann Flücht­lin­gen ver­mit­teln, dass die ru­hi­ge, sach­li­che Art der Pro­blem­lö­sung hier eine gute Sa­che ist. Dass ein so­zia­les Netz, das Schwä­che­re auf­fängt, eben­so eine Form von So­li­da­ri­tät ist, viel­leicht so­gar die nach­hal­ti­ge­re.
Die Miss­ver­ständ­nis­se be­gin­nen bei den Be­griff­lich­kei­ten. Das Wort »Hartz IV« oder »So­zi­al­hil­fe« wird im Per­si­schen und auch auf ara­bi­schen Schil­dern in deut­schen Be­hör­den im­mer wie­der mit dem Wort »Ge­halt« über­setzt. So ent­steht in den Her­kunfts­län­dern die Vor­stel­lung, dass Deutsch­land je­dem ein »Ge­halt« be­zahlt. Wie sol­len deut­sche Be­am­te den Emp­fän­gern er­klä­ren, dass die­se Hil­fe vor­über­ge­hend sein soll, bis sie eine Ar­beit fin­den? Man­che glau­ben: Wenn sie auf Kos­ten von »Un­gläu­bi­gen« leb­ten, rech­net ih­nen Gott das nicht als Sün­de an. Die Idee der So­li­dar­ge­mein­schaft, in der ein Be­dürf­ti­ger An­spruch auf Un­ter­stüt­zung hat, aber auch die Pflicht, wie­der sein Aus­kom­men zu fin­den, ist weit­hin un­be­kannt und so­mit un­ver­stan­.
Vie­le Deut­sche ha­ben Angst vor dem Is­lam. Aber wenn die Re­li­gi­on die­sen mus­li­mi­schen Men­schen tat­säch­lich so wich­tig wäre, gin­gen sie in ein Nach­bar­land, nicht ins Land der Un­gläu­bi­gen. Die Re­li­gi­on steht also nicht an ers­ter Stel­le der Be­dürf­nis­se. Das ers­te Ziel ist ein bes­se­res Le­ben. Aber wenn die­se Men­schen das Ge­fühl von Fremd­heit nicht über­win­den, fällt ih­nen plötz­lich Gott ein, dann schimp­fen sie über die an­geb­lich bil­li­ge Kul­tur des Wes­tens. Sie ha­ben ja nichts an­de­res, das ih­nen Iden­ti­tät und Halt gibt, es bleibt nur der Glau­be.
Auch die Deut­schen müs­sen da­zu­ler­nen. Ein Deut­scher, der ei­nen al­lein ge­flüch­te­ten Ju­gend­li­chen aus Af­gha­nis­tan oder Sy­ri­en auf­nimmt und för­dert, ver­dient höchs­te Wert­schät­zung. Wenn die ju­gend­li­chen Neu­an­kömm­lin­ge hö­ren, dass der Staat für sie pro Mo­nat meh­re­re Tau­send Euro aus­gibt, glau­ben sie, dass ihr Schutz­pa­tron sich aus fi­nan­zi­el­len Grün­den für sie en­ga­giert. Dar­aus ent­springt manch­mal eine selt­sa­me An­spruchs­hal­tung. Es liegt jen­seits der Vor­stel­lun­gen der meis­ten, dass rei­che Eu­ro­pä­er sich für sie ein­set­zen, ein­fach so. Sie fra­gen sich, was das für ein son­der­ba­res Land ist, das Hun­dert­tau­sen­de Aus­län­der auf­nimmt, sie mit So­zi­al­hil­fe und kos­ten­lo­ser Ge­sund­heits­für­sor­ge ver­sorgt. Wo ist hier der Ha­ken?

Auch die Lie­be wird gänz­lich an­ders ge­re­gelt, die tie­fe Er­fah­rung, dass man je­man­den liebt um sei­ner selbst wil­len, ist äu­ßerst sel­ten. Ein Mann mit tra­di­tio­nel­lem is­la­mi­schen Hin­ter­grund zeigt sei­ne Lie­be, in­dem er Ge­schen­ke macht, be­zahlt, sich küm­mert. Um­ge­kehrt kann da­mit ein Be­sitz­an­spruch ein­her­ge­hen. Wenn sol­che Män­ner ver­las­sen wer­den, ent­steht oft ein Pro­blem. Sie ha­ben nicht ge­lernt, mit Ver­lust um­zu­ge­hen, füh­len sich dann wert­los, ha­ben vor den Freun­den ihr Ge­sicht ver­lo­ren. Des­halb muss der Mann die Frau zu­rück­er­obern, sei­ne Ehre wie­der­her­stel­len, oft mit Ter­ror am Te­le­fon oder Stal­king.
Wenn ein Jun­ge ein Mäd­chen mit Te­le­fon­ter­ror ver­folgt, ist es rat­sam, so­fort die Po­li­zei ein­zu­schal­ten und Alarm zu schla­gen. Lie­ber die Un­ver­sehrt­heit des Mäd­chens schüt­zen als zu den­ken, es wird schon nichts pas­sie­ren. Mäd­chen soll­ten eine Be­zie­hung mit Neu­an­kömm­lin­gen erst mal vor­sich­tig an­ge­hen, Gren­zen set­zen und dem Jun­gen er­klä­ren, wie das hier funk­tio­niert. Sie soll­ten tes­ten, wie ei­fer­süch­tig er ist, ob er ag­gres­siv re­agiert, wenn sie wei­ter­hin ihre Freun­de trifft. Es ist wich­tig, deut­lich zu ma­chen, dass man hier nicht hei­ra­tet, be­vor man eine Aus­bil­dung ab­ge­schlos­sen hat. Die El­tern soll­ten dar­auf be­ste­hen, den Jun­gen ken­nen­zu­ler­nen.
Kin­der in Af­gha­nis­tan und Sy­ri­en wach­sen mit dem Glau­ben auf, der Wes­ten sei schuld an der Zer­stö­rung ih­rer Län­der. Die Men­schen ler­nen, dass der Wes­ten etwa nach Sau­di-Ara­bi­en Waf­fen ver­kauft, an ein Land, von dem es heißt, es un­ter­stüt­ze die Ta­li­ban und den »Is­la­mi­schen Staat«. Auf die­se Wei­se recht­fer­ti­gen Flücht­lin­ge den An­spruch, in Deutsch­land Schutz und fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung zu fin­den. Spe­zi­ell nach Deutsch­land kom­men die Men­schen we­gen des gu­ten So­zi­al­sys­tems. Nie­mand sonst bie­tet Flücht­lin­gen so vie­le Chan­cen.
Ich will die Pro­ble­me, die die­se Zu­wan­de­rung bringt, nicht klein­re­den. Aber wir sind in Deutsch­land un­glaub­lich ver­wöhnt. Wir ha­ben mehr als 80 Mil­lio­nen Ein­woh­ner, sind ge­bil­det, ha­ben eine funk­tio­nie­ren­de Wirt­schaft, Uni­ver­si­tä­ten. Ver­gli­chen mit ei­nem Land, in dem die Men­schen nichts zu es­sen fin­den, ha­ben wir Lu­xus­sor­gen. Vie­le kri­ti­sie­ren, was Kanz­le­rin An­ge­la Mer­kel ge­tan hat, es macht uns Angst, kos­tet Kraft und Ner­ven. Die Zu­wan­de­rung zwingt uns zur Ver­än­de­rung, aber sie wird die Lü­cken in un­se­rer Be­völ­ke­rung schlie­ßen.
Die Ein­glie­de­rung so vie­ler Men­schen, die jah­re- oder jahr­zehn­te­lang Krieg er­lebt ha­ben, ist eine Form von Kampf. Jun­ge Män­ner aus Kriegs­ge­bie­ten be­ge­hen hier Ta­ten, die sie in ei­nem mus­li­mi­schen Auf­nah­me­land nie­mals wa­gen wür­den. Wenn je­mand dort zum Ver­ge­wal­ti­ger wird oder zum Tot­schlä­ger, wür­de er ge­stei­nigt oder ge­köpft wer­den. Dies ist kein Plä­doy­er für här­te­re Ge­set­ze, aber wir müs­sen sol­che Ta­ten kon­se­quent ahn­den. Der ab­ge­scho­be­ne Asyl­be­wer­ber Ja­mal Mah­mo­di hat sich in Ka­bul das Le­ben ge­nom­men, weil er in Deutsch­land kri­mi­nell und dro­gen­süch­tig ge­wor­den war. Hier hät­te er viel­leicht so recht und schlecht wei­ter­le­ben kön­nen. Sei­nem Va­ter in Af­gha­nis­tan konn­te er so nicht un­ter die Au­gen tre­ten. Dort hat­te Ja­mal das Ge­sicht ver­lo­ren und da­mit sein Le­ben ver­wirkt.
Ei­ner der größ­ten kul­tu­rel­len Un­ter­schie­de zwi­schen ei­ner tra­di­tio­nell-mus­li­mi­schen und ei­ner auf­ge­klär­ten Ge­sell­schaft ist das Kon­zept der Selbst­be­stim­mung. Na­tür­lich wol­len alle frei sein von Re­strik­tio­nen, Be­feh­len und Stra­fen. Aber der Um­gang mit die­ser Frei­heit hier ist sehr kom­pli­ziert.
Vie­le Ein­wan­de­rer ha­ben auch nie ge­lernt, al­lein zu le­ben, sie be­kom­men De­pres­sio­nen, wenn sie nicht mit ih­ren Ver­wand­ten auf­ein­an­der­hän­gen, Blöd­sinn ma­chen und so den Tag ver­geu­den. Sie wol­len kei­ne In­di­vi­dua­li­tät und müs­sen sie doch ler­nen. Erst in der Ein­sam­keit lernt man sich wirk­lich ken­nen. Die­se Kri­se bleibt kaum ei­nem er­spart, sie ist für je­den Ein­wan­de­rer ein ge­fähr­li­cher Mo­ment. Ich selbst habe mich erst von mei­ner Fa­mi­lie ent­fer­nen müs­sen, um an­kom­men zu kön­nen. Das war nicht leicht, in­zwi­schen ha­ben wir uns ver­söhnt.
Die Re­gie­rung macht es rich­tig, den Men­schen Auf­ent­halt zu ge­wäh­ren und Ar­beits­er­laub­nis­se, aber ein Pass ist et­was an­de­res. Der deut­sche Pass ist der Jo­ker, da­für müs­sen die Men­schen auch et­was tun, sonst schät­zen sie ihn nicht. Es wäre nicht fair ge­gen­über den frü­he­ren Mi­gran­ten, die da­für kämp­fen muss­ten.
Es ist auch wich­tig zu ver­ste­hen, war­um ein 17-jäh­ri­ger Flücht­ling sei­ne ers­te deut­sche Freun­din so­fort hei­ra­ten möch­te. In Af­gha­nis­tan oder Sy­ri­en ist man mit 15 Jah­ren kein Kind mehr, vor al­lem auf dem Land ha­ben man­che dann schon selbst Kin­der. Eine Kind­heit, wie wir sie hier ken­nen, gibt es dort nicht. Die exis­ten­zi­el­len Pro­ble­me der Fa­mi­lie wer­den vor dei­nen Au­gen ver­han­delt, die Ge­walt siehst du je­den Tag. Ich war an­fangs furcht­bar ei­fer­süch­tig, als ich sah, wie sorg­los Kin­der hier auf­wach­sen.
Na­tür­lich ah­nen die we­nigs­ten, aus wel­chen Be­weg­grün­den vie­le El­tern ihre Söh­ne und Töch­ter hier­her­ge­schickt ha­ben. Die Kom­man­do­zen­tra­le die­ser Halb­wüch­si­gen ist nicht das Ju­gend­amt oder der So­zi­al­päd­ago­ge, son­dern der On­kel oder Va­ter Tau­sen­de Ki­lo­me­ter ent­fernt. Um den Jun­gen hier­her­zu­schi­cken, ha­ben sie mög­li­cher­wei­se das Haus ver­kauft, ihr Er­spar­tes ge­op­fert, Geld ge­lie­hen. Des­halb di­ri­gie­ren sie die­se Kin­der wie mit der Fern­be­die­nung. Es gibt nur ein Ziel: Sie müs­sen Geld ver­die­nen für die Fa­mi­lie zu Hau­se. Trotz­dem könn­ten ge­ra­de die­se un­be­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen eine Eli­te­ge­ne­ra­ti­on von Ein­wan­de­rern wer­den, Deutsch­lands Zu­kunft.

Deutsch­land ist jetzt mei­ne Hei­mat. Deutsch­land hat mir die Mög­lich­keit ge­ge­ben, als Frau re­spek­tiert zu wer­den. Aber mei­ne Her­zens­an­ge­le­gen­heit ist es, Ein­wan­de­rer so zu schu­len, dass sie Neu­an­kömm­lin­ge über kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de auf­klä­ren, bis die Bot­schaft an­ge­kom­men ist: das Recht auf se­xu­el­le Selbst­be­stim­mung, was Re­li­gi­ons­frei­heit be­deu­tet, wie Ehe und Fa­mi­lie hier funk­tio­nie­ren, wel­chen Stel­len­wert die Ehre ei­nes Men­schen hat und wel­chen die Ge­set­ze ha­ben.