Meine letzte Freiheit
Udo Reiter führte bislang ein selbstbestimmtes Leben:
Als Top-Manager, als Querschnittsgelähmter. In seiner Autobiografie fordert er
sein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben ein.
Daraus ein Auszug
Kurz bevor ich mich vom MDR zurückzog, starb meine Frau. Ich habe das erste Mal in meinem Leben Sterben aus der Nähe erlebt. Sie hatte seit einigen Jahren Krebs. Erst der Darm, später kam die Leber dazu, dann die Milz und schließlich die Lunge. Sie hat die tödliche Diagnose und die qualvollen Behandlungen, Operationen, Chemotherapien, mit einer bewundernswerten Haltung ertragen. (...)
Mich hat dieses Todeserlebnis veranlasst, mich eingehender mit der Problematik des Sterbens zu befassen. (...) Woher nehmen Politiker, Kleriker und Medizinfunktionäre das Recht, über meinen Tod zu entscheiden? Das Recht auf Selbstbestimmung ist die Grundlage unserer Verfassung. Für alle Lebensbereiche wird es eingefordert. Nur das Recht auf den eigenen Tod will man uns nicht einräumen. Hier wird theologisch argumentiert und psychiatrisch, hier werden alle möglichen medizinischen und juristischen Gesichtspunkte bemüht, die mein Selbstbestimmungsrecht in diesem speziellen Fall angeblich außer Kraft setzen. Als Gunter Sachs seinem langen und schönen Leben im hohen Alter aus Angst vor drohender Debilität mit einem Schuss ein Ende setzte, erklärte irgendein aufgeblasener Psychiatrieprofessor im Fernsehen, dass Sachs wegen einer offensichtlichen depressiven Verstimmung nicht mehr im Stande gewesen sei, eine selbstständige Entscheidung zu treffen, und man ihn vor sich selbst hätte in Schutz nehmen müssen. Das hat mich empört.
Selbst wenn ich eine Depression habe, es ist meine, und sie geht den Professor gar nichts an. Es kann nicht sein, dass andere bestimmen dürfen, wann wir über uns entscheiden können und wann nicht. Das ist das Ende der Idee der Selbstbestimmung, der Anfang des totalitären Betreuungsstaats. Und wenn es eine »Fehlentscheidung« ist, die ich treffe, dann ist es meine Fehlentscheidung. Es ist die Konsequenz der Freiheit, auch Fehlentscheidungen treffen zu können. Und es gehört zu einer freien Gesellschaft, sein Lebensende selbst festsetzen zu können. Ich habe trotz Rollstuhl ein schönes und selbstbestimmtes Leben geführt. Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht allmählich vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hin dämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will.
Ohne Bevormundung durch einen Kardinal, einen Ärztepräsidenten oder einen Bundestagsabgeordneten. Und wenn ich das entschieden habe, möchte ich mich ungern vor einen Zug rollen oder mir, wie das verschiedentlich empfohlen wird, eine Plastiktüte über den Kopf ziehen und mit einem Klebeband eng um den Hals befestigen, bis mir der Sauerstoff ausgeht und ich am Kohlenstoffdioxid ersticke. Ich möchte auch nicht in die Schweiz fahren und mich dort auf einem Parkplatz oder in einem Hotelzimmer von Mitarbeitern der Sterbehilfe Exit einschläfern lassen.
Ich möchte bei mir zu Hause, wo ich gelebt habe und glücklich war, einen Cocktail einnehmen, der gut schmeckt und mich dann sanft einschlafen lässt. Dieses Recht auf einen selbstbestimmten Tod ist das Gegenstück zum Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Ich finde es unerträglich, dass eine Allianz aus Politik, Kirche und Ärzteschaft uns dieses Recht immer noch vorenthalten will. Wir sollten uns das nicht gefallen lassen. Wir sollten den Cocktail einfordern als letzte Leistung unserer Krankenkasse. Der Hinweis auf einen möglichen Missbrauch ist lächerlich. Alles im Leben kann man missbrauchen, auch ein Küchenmesser, und der mögliche Missbrauch einer Sache ist nie ein Argument gegen die Sache selbst. Ob es neben den ethischen Einwänden gegen die aktive Sterbehilfe auch ökonomische Interessenlagen gibt, die einer Cocktaillösung im Weg stehen, weiß ich nicht. Wenn man sieht, welche horrenden Rechnungen gerade in den letzten Monaten eines verlöschenden Lebens von Ärzten und Pharmaindustrie ausgestellt werden, könnte einem der Verdacht kommen.
Um es klar zu sagen: Ich freue mich meines Lebens und möchte, solange es irgend geht, dabei sein. Aber wenn es nicht mehr geht, möchte ich nicht in einer Weise abtreten, die ich quälend finde und die meiner bisherigen Lebensweise unwürdig ist.
Udo Reiter: Gestatten, dass ich sitzen bleibe.
Aufbau Verlag Berlin. 248 S., 19,99 € (ab 18.Februar)
Mit der Bitte um Veröffentlichung habe ich an die ZEIT folgenden Leserbrief geschickt:
Ich danke der ZEIT für die Veröffentlichung des Auszugs aus dem Buch von Herrn Reiter und ihm selbst für die treffende Darstellung der Entmündigung des Bürgers, wenn es darum geht, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen.
Ich stimme ihm absolut zu und freue mich, meine persönliche Auffassung so umfassend und treffend von jemandem formuliert zu finden, dem man zuhört und dessen Darstellung veröffentlicht wird.
Ich musste den verzweifelten Prozess einer aussichtslosen Suche nach einer Lösung miterleben, an dessen Ende eine mir sehr nahe stehende 89-jährige Alte Dame auf einen eigens von ihr an's Geländer ihres Balkons geschobenen Stuhl gekraxelt ist, um sich aus dem 3. Stock in den Tod zu stürzen. Sie war gesund und bei klarem Verstand, hatte aber - wie sie gesprächseweise sehr oft wiederholend, bewusst und ernsthaft betont hatte - trotz objektiv guter Rahmenbedingungen keine Freude mehr am Dasein und wollte ihr Leben selbstbestimmt beenden, bevor sie körperlich und geistig dazu nicht mehr in der Lage sein würde.
Sie sah letztlich nur den würdelosen Weg, sich über die Brüstung ihres Balkons zu stürzen, um Dritte so wenig wie möglich mit den Folgen ihrer Entscheidung zu belasten.
Michael RvC
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